29.09.23 – Drahtherstellung

Simulationsgestützte Mikrostrukturvorhersage in der Prozessauslegung

Die Simulation des Materialverhaltens ist ein wichtiges Hilfsmittel bei der Prozessauslegung. Ein Modell des Fraunhofer IWM ermöglicht die Vorhersage der Mikrostrukturentwicklung während der Drahtherstellung. In Form eines Simulationsprogramms steht es für die praktische Anwendung zur Verfügung.

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Abbildung 1: Das Materialmodell des Fraunhofer IWM kann die Mikrostrukturentwicklung bei der Drahtherstellung vorhersagen. Die rechnerische Variation der Prozessbedingungen erlaubt Vorhersagen zu deren Auswirkungen auf die Produkteigenschaften. © IWM

 
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Abbildung 2: Anwendung des Materialmodells auf das Warmwalzen eines Stahls. Entlang der gesamten Prozesskette wird die Veränderung der Korngröße und der Ausscheidungen und damit der mechanischen Eigenschaften vorhergesagt. © IWM

 
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Vielfältige Gründe erfordern die kontinuierliche Weiterentwicklung von Prozessen und Materialien in der Drahtherstellung: Aufgrund hoher Qualitätsanforderungen sind Fehler und Prozessabweichungen zu vermeiden, zunehmende Energiekosten verlangen nach stetigen Effizienzsteigerungen und für die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit sollten Potenziale der Produktivitätssteigerung genutzt werden. Da allerdings gleichzeitig die Prozess- und Produktentwicklung einem erheblichen Kostendruck unterliegen, stellt sich die Frage, wie sich die Entwicklungszyklen möglichst zielgerichtet und schnell gestalten lassen. Ein zentrales Hilfsmittel hierfür sind Berechnungs- und Simulationsmethoden, die dazu beitragen, die Anzahl an notwendigen Versuchen bis zur Serienreife wesentlich zu verringern. Durch die systematische rechnerische Untersuchung möglicher Szenarien lassen sich am Computer vielversprechende Prozessvarianten eingrenzen, sodass der erste Prototyp bereits nah am finalen Produkt ist.

Simulation der ganzen Prozesskette
Beim „15. Branchentag Draht“ am 29.09.2022 in Iserlohn wurde ein am Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik IWM entwickeltes Modell für die Simulation des Materialverhaltens vorgestellt, das die Untersuchung, Auslegung und Optimierung von Umform- und Wärmebehandlungsprozessen unterstützt (siehe auch [1] und [2]). Das Modell sagt in Abhängigkeit der Prozessgeschichte die Veränderung der thermomechanischen Materialeigenschaften und des Gefüges vorher. Entlang aller Prozessschritte können damit beispielsweise die Fließspannung und Korngröße sowie der rekristallisierte Gefügeanteil betrachtet werden (Abb. 1). Für ausscheidungsbildende Werkstoffe werden zudem der Volumenanteil und die Größe der Ausscheidungsteilchen sowie deren Einfluss auf die Rekristallisation und Festigkeit berechnet.

 Mit diesem Ansatz kann eine ganze Prozesskette abgebildet werden, ohne dass zwischen den Teilschritten Daten von einem Modell in ein anderes übertragen werden müssen (Abb. 2). Somit ist beispielsweise die durchgängige Vorhersage des Materialverhaltens für das Walzen, Ziehen und Glühen des Drahts möglich. Dabei lässt sich der Einfluss jedes Prozessschritts untersuchen, sodass ein tiefes Verständnis der Zusammenhänge zwischen den Prozessparametern und dem Materialverhalten entsteht. Durch die gezielte Variation der Prozessparameter lassen sich Vorhersagen treffen, wie der Gesamtprozess so verbessert werden kann, dass Zeit, Energie und Kosten eingespart werden und gleichzeitig die gewünschten Produkteigenschaften erzielt werden.

Angebot als Softwarelösung
Das Materialmodell ist in einem eigenständigen Simulationsprogramm implementiert und steht so anwenderfreundlich für die industrielle Nutzung zur Verfügung. Derzeit befindet sich das Simulationsmodell in verschiedenen industriellen Anwendungen: Im Bereich der Warmumformung wird es für Stahl- und Nickelbasislegierungen eingesetzt. Darüber hinaus wird es momentan für die Simulation der Wärmebehandlung von gezogenem Kupferdraht validiert. Im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte werden das Materialmodell und die darauf aufbauende Simulationssoftware kontinuierlich weiterentwickelt.

 Das am Fraunhofer IWM entwickelte Materialmodell beruht auf physikalischen Prinzipien, sodass das komplexe Materialverhalten realistisch abgebildet wird. Die Kalibrierung für einen bestimmten Werkstoff erfordert daher nur einen überschaubaren Aufwand. Typischerweise werden dafür Umform- und/oder Wärmebehandlungsversuche unter kontrollierten Bedingungen im Labormaßstab durchgeführt. Die Proben werden vor und nach den Versuchen metallografisch untersucht, um die Abhängigkeit der Gefügeveränderungen von den Prozessparametern zu studieren. Die Modellparameter werden anschließend so eingestellt, dass das Simulationsmodell die prozessabhängigen Materialeigenschaften und die Gefügeentwicklung in den Laborversuchen optimal beschreibt (Abb. 3). Alle Schritte von der Durchführung thermomechanischer Versuche über die Metallografie bis hin zur Identifikation der Modellparameter werden vom Fraunhofer IWM aus einer Hand angeboten.

Literatur
[1] Kertsch, L.: Modellierung des thermomechanischen Materialverhaltens und der Gefügeentwicklung mikrolegierter Stähle, Dissertation, Karlsruher Institut für Technologie, Karlsruhe, Germany, 2022, https://doi.org/10.24406/publica-222.
[2] Kertsch, L.; Helm, D.: A thermodynamically consistent model for elastoplasticity, recovery, recrystallization and grain coarsening, International Journal of Solids and Structures 152–153, 185–195, 2018, https://doi.org/10.1016/j.ijsolstr.2018.06.026.

Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik IWM
Wöhlerstraße 11, 79108 Freiburg
Ansprechpartner ist Lukas Kertsch
Tel.: +49 761 5142-479
lukas.kertsch@iwm.fraunhofer.de
www.iwm.fraunhofer.de