08.08.23 – Auf ein Wort

Deindustrialisierung – Wie sieht Deutschlands industrielle Zukunft aus?

Volkswirtschaften und deren Strukturen verändern sich im Zeitablauf, unterliegen einem immerwährenden Wandel. Disruptionen bringen etwas Neues hervor. Positive „Schöpferische Zerstörungen“ (Josef Schumpeter) heben Volkswirtschaften auf ein höheres Niveau, wobei es einen Trend zur Dienstleistungsgesellschaft gibt. Zugleich ist zu beachten, dass für materielle Produkte eine gewisse Grundstoffindustrie vonnöten ist. Wie qualitativ und quantitativ solch eine Industrie aufgestellt sein soll, darüber lässt sich trefflich streiten.

Stefan-Skudlapski.jpg

„Der deutsche Wohlstand fußt gleichwohl auf der industriellen Basis des Landes“, so Stefan Skudlapski. © MV-Marketing

 

Der Autor des Beitrags, Stefan Skudlapski, schrieb diesen Beitrag bereits Ende 2022 nach einer Podiumsdiskussion. Seine Ausführungen zu dem unten diskutierten Thema wurden von einigen Teilnehmern infrage gestellt. Aufgrund der aktuellen Entwicklungen stellt DRAHT dieses Essay einem größeren Publikum vor. Seine Relevanz ist evidenter als je zuvor.
2021 steuerte die deutsche Industrie noch immer 26,1 % zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei. In UK und den USA sind es noch 17,7 %, in Frankreich nur noch 16,8 %. Dieser hohe Industrieanteil ließ Deutschland auch gut durch die realen Auswirkungen der Finanzkrise 2008/2009 kommen. Der Wohlstand Deutschlands basiert auf der heimischen Industrie. Unternehmen unterliegen bestimmten ökonomischen Zwängen. Politische Rahmenbedingungen (Infrastruktur, Ordnungspolitik und Finanzpolitik) determinieren Standortwahl und Verlagerungen.
Eine „Deindustrialisierung“ Deutschlands ist nicht gesetzt. Aber es gibt untrügliche Anzeichen für solch eine Entwicklung. Und falls es dazu kommen sollte, wird es auch kein schneller Prozess sein, sondern ein schleichender, der sich über ein oder zwei Dekaden hinziehen wird. Es werden hiervon auch nicht alle Branchen betroffen sein. Jedoch lässt sich schon derzeit vereinzelt diese Entwicklung erkennen. Im folgenden werden drei Entwicklungen, die zu einer Deindustrialisierung in Deutschland führen könnten, diskutiert.

Zu geringe Nettoinvestitionsquote
Die schleichende Deindustrialisierung Deutschlands manifestiert sich in den Nettoinvestitionsquoten der letzten Jahrzehnte. Die Staatsquote bewegt sich in den letzten zwei Jahrzehnten gegen Null, die Industriequote bewegt sich zwischen ein und zwei Prozent im gleichen Zeitraum. Damit einher geht ein Rückbau des notwendigen industriellen Produktionskapitals. Es wurden also nicht die erforderlichen Investitionen zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit durchgeführt. Anders gesagt: Es wird gesamtwirtschaftlich zu viel konsumiert, zu wenig investiert.

Die BASF investiert zehn Mrd. Euro in einen neuen Verbundstandort in China. In Ludwigshafen sind Kosteneinsparungen geplant, welche mit einem Arbeitsplatzabbau einhergehen. Die Automobilhersteller bauen derzeit die neuen Kapazitäten für die Elektromobilität in osteuropäischen Staaten auf. In Folge werden die Systemlieferanten und auch Modullieferanten folgen. Ein nächster Entwicklungsschritt wäre die Zulieferindustrie, die neue Fertigungsstätten in diesem Umfeld aufbaut. Wenn Leonie die Kabelherstellung, auch ein wichtiger Wertschöpfungsanteil im Rahmen der Elektromobilität, nach Polen und der Ukraine auslagert, folgen die Automatisierungshersteller. Hierbei handelt es sich dann auch um klassische KMUs mit oft bis zu 250 Mitarbeitern. Damit gehen weitere Wertschöpfungen ins Ausland. Hier entstehen somit die neuen „Wertschöpfungsnetzwerke“.

Demographische Entwicklung
Hinzu kommt, dass in den nächsten Jahren die Babyboomer in Rente gehen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen geht die potenzielle Wachstumsrate des BIP/Einwohner zurück. Damit stehen noch weniger finanzielle Mittel für Investitionen zur Verfügung und diese wandern in Staaten, in welchen die Kapitalrendite höher ausfällt. Dieser demographischen Entwicklung und deren Folgen lassen sich nur mit einer höheren Nettoinvestitionsquote begegnen. Die Zauberwörter heißen hier: Automatisierung und Robotisierung. Durch das abnehmende Erwerbspersonenpotenzial und fehlenden Fachkräften sind die Unternehmen gezwungen, neue Standorte im Ausland zu suchen. So hat Bayer 2021 einen neuen „Digital-Hub“ in Warschau eröffnet für vier- bis fünfhundert Datenspezialisten.

Steigende Energiepreise
Die gestiegenen Energiekosten, insbesondere der Gaspreis, werden einen weiteren Strukturwandel erzeugen und beschleunigen. Für jedes Dritte mittelständisches Unternehmen stellen die hohen Energiekosten eine existenzielle Herausforderung dar (BDI-Umfrage 2022). Aufgrund dieser Entwicklung werden bestimmte Produktionen und Geschäftsmodelle in Deutschland mittelfristig nicht mehr tragfähig sein. Die Aluminiumindustrie, die sehr energieintensiv ist, aber auch Teile der Metallerzeugung und -verarbeitung suchen sich Standorte mit geringeren Energiekosten. Die Herstellung von Primäraluminium ist bereits jetzt nicht mehr in Deutschland und Europa wirtschaftlich möglich. 2021 ist die Hälfte der Kapazitäten der Aluminium- und Zinkproduktion in Europa wegen der Energiepreise runtergefahren worden. Eine potenzielle Destination sind die USA. Hier betragen derzeit die Energiekosten ein Zehntel der deutschen. Und die niedrigen Energiepreise, die wir vor dem Ukrainekrieg hatten, werden nicht zurückkommen.
Gerade die Stahl- und Grundstoffindustrie, energieintensive Industrien, sind für die darauf aufbauenden Wertschöpfungsstufen unabkömmlich. Mit deren Wegfall verschwindet zumindest ein Teil der Weiterverberarbeitung und damit auch der entsprechende Zulieferindustrie, Maschinen- und Anlagenbau.

Die Zukunft
Nun gab es in der Neuzeit, aber auch schon in der Antike, immer wieder solche Veränderungen und Disruptionen. Man denke nur an die ersten Hochkulturen rund um das östliche Mittelmeer, die Bronze- und frühe Eisenzeit. Solche Entwicklungen, welche diese Region über einige Jahrhunderte durchlaufen haben, werden Deutschland vermutlich nicht treffen. Wir wären auch in der Lage, mit unseren heutigen Technologien, diesen Entwicklungen zu widerstehen.
Es wird keine komplette Deindustrialisierung stattfinden, aber selbst ein Rückgang auf unter 20 % am BIP, wird gravierende Folgen haben. Einige Regionen in Deutschland, bspw. Schwaben und Südwestfalen, werden hiervon besonders betroffen sein. Eine solche Entwicklung ist (fast) unumkehrbar. Ein Beispiel hierfür ist die deutsche Pharmaindustrie. Deutschland war einst die Apotheke der Welt. Hat vor 40 Jahren noch ein deutscher Pharmahersteller die Liste der umsatzstärksten Hersteller angeführt, so liegt aktuell der größte deutsche Hersteller auf Rang 15. Die weiteren Platzierungen haben sich ähnlich entwickelt. Heute sind China und Indien die Hersteller der pharmazeutischen Grundstoffe. In der Pandemie waren wir von diesen beiden Staaten abhängig und werden es wohl auch bleiben. Bestimmte Entwicklungen sind (fast) unumkehrbar. Aber es gibt auch Hoffnung. Deutschland verfügt über ein großes Forschungs- und Entwicklungspotenzial. Zwei Entwicklungen sind hier zu betrachten: Die Digitalisierung und eine nachhaltige Produktion, die in eine nachhaltige Volkswirtschaft münden.
Es sind heute die notwendigen politischen und ökonomischen Entscheidungen zu treffen, um die industrielle Basis für den Wohlstand in diesem Land zu halten. Unter den notwendigen Bedingungen wird die deutsche Industrie im Land bleiben.

Der Autor des Beitrags ist Stefan Szkudlapski, 58640 Iserlohn.

MV-Marketing Vertrieb Unternehmensberatung
Eibenstraße 18, 58640 Iserlohn
Ansprechpartner ist Stefan Szkudlapski
Tel.: +49 2371 46886
stefan.szkudlapski@mv-marketing.com
www.mv-marketing.com

Zur Person
Dipl.-Kfm. Stefan Szkudlapski ist Inhaber der MV-Marketing Vertrieb Unternehmensberatung in Iserlohn. Seit 2008 betreut Stefan Skudlapski als Netzwerkmanager das Unternehmensnetzwerk Netzwerkdraht e.V. Mittlerweile haben sich in diesem Netzwerk 97 Unternehmen der Drahtindustrie zusammen gefunden. Ebenfalls seit 2008 veranstaltet MV-Marketing jährlich den „Branchentag-Draht“, das Branchen-Symposium im deutschsprachigen Raum. Diese Veranstaltung richtet sich insbesondere an Fach- und Führungskräfte der Draht verarbeitenden Industrie, die sich mit neuesten technischen Entwicklungen und Innovationen vertraut machen wollen. In Impulsvorträgen werden jeweils Aspekte des Drahtziehens sowie der weiteren Verarbeitung diskutiert.