30.01.24 – Otto von Guericke-Preis

Das neue „Heiß" ist „Eiskalt"

Ein Forscherteam trennt eiskalt Stahlverbindungen und wird dafür mit dem Otto von Guericke-Preis ausgezeichnet.

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Das Forscherteam Prof. Dr.-Ing. Tim Michael Wibbeke (l.), Dr. Aurélie Bartley und Nick Chudalla im Gespräch. © AiF

 

Erfolgreiche Kreislaufwirtschaft: Ein modernes Auto enthält 15kg bis 18kg Klebstoff, der wertvolle Stahlbauteile zusammenfügt. Hochfeste Stahlklebverbindungen materialerhaltend zu trennen, ist aufgrund der hohen Festig- und Zähigkeiten sowohl der Stahlwerkstoffe und auch der Klebstoffe eine große Herausforderung. Das Forschungsteam Prof. Dr.-Ing. Tim Michael Wibbeke und Dr. Aurélie Bartley vom Lehrgebiet Fertigungstechnologie Mechatronik der Hochschule Hamm-Lippstadt sowie Prof. Dr.-Ing. Gerson Meschut und Nick Chudalla vom Laboratorium für Werkstoff- und Fügetechnik der Universität Paderborn hat nun eine „eiskalte“ Lösung entwickelt. Die Wissenschaftlerin und Wissenschaftler gehören zu den drei Finalistenteams für den Otto von Guericke-Preis 2023. Die Ergebnisse ihres Forschungsprojektes mit dem Titel „Analyse des Versagensverhaltens geklebter Stahlverbindungen bei werkstoffschonendem Entfügen in der Karosserieinstandsetzung“ machen nachhaltige kreislaufwirtschaftliche Prozesse nicht nur in der Fahrzeugreparatur möglich. Insbesondere im Automobilbau ist das Kleben als Fügetechnologie nicht mehr wegzudenken - von Leichtbaukarosserien, über Sicherheitsgläser bis hin zu Traktionsbatterien. Dabei enfallen mittlerweile 9% der gesamten jährlichen Klebstoffproduktion auf die Fahrzeugbranche. Während Klebverbindungen für Produktion, Betrieb und auch bei einem Crash klare Vorteile bieten, bereiten sie bei der Karosserieinstandsetzung jedoch große Probleme. Diese Probleme und diese Klebverbindungen haben die Forschenden jetzt erfolgreich gelöst. Das neue „Heiß“ ist „Eiskalt“

Wie ent-fügen?

Schweißpunkte an Karosseriestrukturen werden beim vorgestellten Projekt mit Spezialfräsen entfernt und Nieten herausgedrückt. „Hochfeste, crashstabile Klebverbindungen mussten bislang bei relativ hohen Temperaturen von 350°C bis 500°C, zum Beispiel mit einem speziellen Heißluftfön und mit Karosseriemeißeln, aufwendig entfügt werden“, erklärt Wibbeke. Bauteile, die eigentlich in die Wiederverwendung gehen sollten, wurden durch die mechanische Beanspruchung deformiert. „In Karosseriestrukturen haben wir häufig Mehrlagenverbindungen – das heißt, es sind mehrere Klebschichten übereinander angeordnet. Durch die hohen Temperaturen werden die darunterliegenden Klebschichten thermisch geschädigt“, ergänzt Meschut. Dieses Verfahren ist weder kostengünstig noch nachhaltig. Im Rahmen des IGF-Projektes wurde daher nach einem neuartigen Ansatz gesucht, Klebverbindungen mittels tiefer Temperaturen schnell, einfach und nachhaltig sowie bauteilschonend zu lösen.

Schrittweise Problemlösung

Die Wissenschaftlerin und Wissenschaftler ermittelten zunächst die Parameter, unter denen die Klebstoffe „effizient und kraftarm“ und ohne Verformung der Bauteile entfügt werden können. „Wir konnten zeigen, dass bei einer kurzzeitigen Abkühlung von zirka minus 60°C die Werkstoffeigenschaften unbeeinflusst bleiben. Das macht unser Verfahren besonders schonend und gut geeignet für die Kreislaufwirtschaft der Karosserieteile“, hebt Bartley stolz hervor. Aufbauend auf diesen Forschungsergebnissen setzte das Team einen Demonstrator ein, der auf einer Trockeneisstrahlanlage basiert. „Zur besseren Kälteeinbringung wurde ein Gemisch aus CO2 und Ethanol verwendet. Das verweilt auf dem Bauteil und kühlt die darunterliegende Klebschicht ab“, beschreibt Chudalla den Prozess zur Vorbereitung des materialschonenden Entfügens. „Extrem wirtschaftlich und nachhaltig“ Innerhalb von IGF-Projekten forschen Wissenschaft und Wirtschaft immer gemeinsam. Mittelständische Unternehmerinnen und Unternehmer bringen ihre langjährige Expertise aus der Praxis ein und sind ein Garant für anwendungsnahe und vor allem bedarfsgerechte Forschung.

Der Praxis-Test

Peter Vogel, Geschäftsführer der Vogel GmbH & Co. KG - Karosserie und Lackiercenter, und seine Mitarbeiter verwenden das Kaltentfügeverfahren seit April 2022. Der Unfallreparaturspezialist fasst die Wirkung der Forschungsergebnisse zusammen: „Für uns ist eine effiziente, nachhaltige, schnelle Reparatur von Multimaterialmix-Karosserien extrem wichtig. Bei dem Kaltentfügeverfahren werden bestehende Strukturen entsprechend geschont und wir können damit eine schnellere und saubere Reparatur generieren. Das ist für uns extrem wirtschaftlich und nachhaltig.“ Dieses Projekt sei ein hervorragendes Beispiel dafür, wie anwendungsorientierte Gemeinschaftsforschung im vorwettbewerblichen Bereich für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) funktioniert, schätzt Rainer Salomon, Geschäftsführer der AiF-Forschungsvereinigung Stahlanwendung e.V. – FOSTA ein und erklärt: „Allein über den Zentralverband Fahrzeug- und Karosserietechnik erreichen wir über 3200 Unternehmen mit den IGF-Ergebnissen, die diese jetzt auch wirklich anwenden können. Da sie großserientauglich sind, bedeutet dies große Vorteile im Werkstoffkreislauf.“ Überall wo Stahl eingesetzt wird, könne das neue Entfügeverfahren ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit steigern.

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